Philosophische Temperamente: Von Platon bis Foucault (German Edition) by Sloterdijk Peter

Philosophische Temperamente: Von Platon bis Foucault (German Edition) by Sloterdijk Peter

Autor:Sloterdijk, Peter [Sloterdijk, Peter]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Diederichs
veröffentlicht: 2010-04-25T22:00:00+00:00


HEGEL

Daß man am Ende sein muß, um die Wahrheit sagen zu können – diese Überzeugung ist dem Werk Hegels allenthalben wie ein unzerreißlicher Faden eingewoben. Mit ihr hat Hegel das Grundmotiv von Platons Erkenntnislehre zu monumentaler Höhe geführt: Erkennen heißt sich erinnern; begreifen meint rekonstruieren. Der Denker, dessen System nicht ohne gute Gründe als Vollendung der abendländischen oder christlich-platonischen Metaphysik bezeichnet wurde, ist seinem Wesen nach selbst der Metaphysiker der Vollendung. Nach Hegel heißt philosophisch denken die Ernte des Seienden nach Hause bringen; schlechthin nach Hause kommt jedoch nur, was sich im Ganzen heimisch machen kann: der Geist. Bei Hegel nimmt dieser Geist sich Zeit; er hat und macht Geschichte; über Schädel und Stufen geht er in die letzte Häuslichkeit ein, bei sich selbst; der Wein der Wahrheit wird aus Spätlesen gewonnen. Hegels typische Zeiten sind darum Herbst und Abend, seine bevorzugte Denkfigur ist der Schluß, seine innerste Farbe das nachtnahe Grau. Unter seinem Blick wird jede Gegend ein Abendland, jede Ansicht muß zu einem Schlußtableau geraten. Das terminale Wissen entsteht in vorgerückter Stunde, wenn sich der Begriff vom Erlebnis löst, um sich in Bilanzen für die Ewigkeit aufzustellen. Gelebt haben ist alles. Ein gutes wird das zu Ende gelebte Leben gewesen sein, wenn das Hintersichhaben des Lebens gleichbedeutend ist mit dem Durchdringen des Geistes zum Vollbesitz seiner selbst. Solches Streben nach Einkehr in die Fülle zeigt an, daß auch Hegels Geist, bei aller neu gewonnenen Offenheit für das Werden, auf eine Zeit nach dem Ende der Zeiten aus ist.

Bedeutet das Werden eine Schule, muß diese doch zu einem Abschluß führen; ist es Prozeß, so kann in ihm der Moment des Urteils nicht ausbleiben. In diesem Sinn ist Hegel der Denker der Reife; seine Phänomenologie wie seine Enzyklopädie bieten Programme für eine Vernunft, die ein bestimmtes Curriculum zu durchlaufen hat. Nur im Namen von Maturität lassen sich der historische und der metaphysische Sinn auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Wenn sich der Geist auf seine Ausbreitung durch die Zeiten einläßt, so nur, um durch sie hindurch zur Endzeit und Überzeit zu reifen. Unsere Anhänglichkeit ans Vorläufige soll vergehen, bis sich alles in Asche und Wissen verwandelt hätte. Bei Hegel kommt das Geheimnis der klassischen Philosophie an den Tag, daß metaphysisch zu denken immer schon in Vollendungen zu denken bedeutet hat. Hegel besaß den Mut, die Frage nach dem Wann der Vollendung selbstbezüglich zu beantworten; seine Auskunft heißt: jetzt. Durch Dialektik bekommt Grandiosität Methode. Kraft seines Systems meinte sich Hegel ins zeitlose Herz der Zeit hineingedacht zu haben. Der Geist, der durch sein Werk redet, hat Grund gefunden für die These: Meine Zeit ist reif; der Weltprozeß ist im Ganzen aktenkundig geworden; zu vollenden ist heute, was ich einst, als ich im Osten aufging, begonnen habe. Wo Leidenschaft war, ist Archiv geworden. Alles frühere Denken erscheint, von Hegels spätem Jetzt her gedacht, als vorbereitend und weiterführend, um den Geist für sich selbst als das Absolute zu qualifizieren. Ist der Augenblick der Wissensvollendung da, teilt er die Zeiten in ein Bisher und ein Jetzt-und-Immer.



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